„Wir nennen uns nicht Roma. Wir sind Zigeuner! Unsere Heimat ist hier in Ungarn. Woanders würden wir uns nicht zuhause fühlen“, erklärt eine rundliche Frau mit freundlichen Augen, die wir zusammen mit Pfarrer Bakay besuchen. Sie wohnt mit ihrer für uns unüberschaubar großen Familie in der sogenannten „Zigeuner-Reihe“ abseits des ohne hin schon winzigen Dörfchens Pusztahencse.
Die meisten Zigeuner in Ungarn nennen sich selber nicht Roma. „Diejenigen, die sich Roma nennen, wollen doch nur etwas Besseres sein“, urteilt eine junge Studentin, die als erste Zigeunerin die Ausbildung zur Hebamme machte und nun studiert. Zigeuner in Ungarn sehen sich gleichzeitig als Ungarn und Zigeuner oder umgekehrt. Doch ihre Identität ist durchaus eine spannende und nicht immer einfach zu beantwortende Frage. In Ungarn leben drei bedeutende ethnische Minderheiten: die Olah- Zigeuner, die Beasch-Zigeuner und die Romugro. (Roma und Sinti sind die in Deutschland lebenden Zigeuner.) Oft sind sie einander gegenüber verfeindet und verstehen sich mit den ungarischen Nicht- Zigeunern viel besser. Die Traditionen, die Sprachen und der Zusammenhalt untereinander sind bei allen drei Minderheiten unterschiedlich und eine Wissenschaft für sich. Dadurch wird die Annäherung an die Zigeuner für Außenstehende so schwierig. Damit die angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer diese Hürde besser meistern können, gibt es seit 2014 ein neues Pflichtseminar an der Evangelisch- Lutherischen Theologischen Universität, das Pfarrer Bakay zusammen mit seinem Kollegen Pfarrer Dávid Győri leitet. In diesem Seminar wird viel über die ethnischen Minderheiten doziert. Das Besondere daran ist, dass die Vorträge von Zigeunern, die Politiker oder Künstler sind, selbst gehalten werden. Außerdem sollen vor allem eigene Vorurteile abgelegt oder eigene schlechte Erfahrungen überwunden werden, damit die angehenden Pfarrinnen und Pfarrer unbefangen an Zigeuner herantreten und ihre Gemeinden dazu animieren können dies ebenfalls zu tun. Am Ende des Seminars steht ein obligatorischer Besuch in Nyíregyháza an, das nahe bei der ukrainischen Grenze liegt. Dort besuchen die Studierenden das einzige evangelische Roma-Fachkollegium. Dieses Fachkollegium unterstützt junge Zigeuner im Studium ihre Kompetenzen zu erweitern. Außerdem besuchen die angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer die evangelisch-lutherische Gemeinde Filadelfia in Nyírtelek. Diese Gemeinde hat seit Jahren Kontakt zu dem Zigeunerdorf Görögszállás. Der ausdauernde Kontakt wurde zum Glaubenszeugnis und der Großteil des Dorfes hat sich der Gemeinde angeschlossen. Die damals noch gewalttätige Stimmung im Dorf ist einer lebensbejahenden Haltung gewichen. Sogar ein landwirtschaftliches Projekt konnte umgesetzt werden, das den Dorfbewohnern nicht nur Arbeitsstellen, sondern auch Zukunftsperspektive brachte.
Doch Pfarrer Bakays Aufgaben gehen weit über die Schulung angehender Pfarrerinnen und Pfarrer hinaus. Aus der Hauptstadt zurückgezogen lebt er selbst in einem kleinen Dorf zwischen den Zigeuner und Nicht-Zigeunern. Er ist für die Menschen da: Ob Bibelstunden oder Hausbesuche, ob Missionsveran- staltungen oder Gottesdienste. „Sie liegen mir am Herzen und die Zeit, die ich nicht in der Zigeunermission verbringe, ist für mich verlorene Lebenszeit“, gesteht Pfarrer Bakay. Mit dieser Nächstenliebe möchte er andere anstecken. Er ist zusammen mit Vertretern der reformierten, baptistischen und methodis- tischen Kirche, sowie der Pfingstgemeinde, Mitherausgeber eines Informationsblattes mit dem Namen „Tükör“. Tükör bedeutet auf Ungarisch Spiegel und möchte protestantischen Gemeinden einen Spiegel vorhalten, damit sie sich für Zigeuner öffnen. Doch nicht nur mit einer Informationsschrift werden Gemeinden angesprochen. Pfarrer Bakay und seine Kollegen gehen mit Zigeunern, die zum christlichen Glauben gefunden haben, immer wieder auf „Missionstour“ in die alteingesessenen evangelischen Gemeinden. Mit strahlenden Augen und fröhlicher Stimme erzählen die Zigeuner, welche lebensverändernde Kraft die Botschaft von Jesus Christus auf ihr Leben hatte. Somit bewirkt die Zigeunermission ein Stück weit auch eine Missionierung der eigenen Kirche. Herr Bakay, das Thema Migration und Wanderung der Roma ist in den letzten Jahren ein brisantes Thema in Europa geworden. Schon lange davor war in Ungarn die Zigeunerfrage relevant. Ist ein gutes Miteinander überhaupt möglich? Migration gab es schon immer und wird es immer geben. Abraham beispielsweise ging von Mesopotamien nach Kanaan, die Ungarn wanderten vor 1200–1600 Jahren von Asien nach Europa und die Zigeuner kamen im 15. Jahrhundert über den Balkan. Hinter der Migration stehen bekannterweise meist wirtschaftliche oder machtpolitische Gründe. In jedem Fall spielt der Überlebenswille oder die Hoffnung auf ein besseres Leben eine maßgebende Rolle. In unseren Tagen ist die Welt erneut in Bewegung, auch ganz Europa bewegt sich und nicht nur die Roma sind auf Wanderung. Es geht also nicht nur um die Schwierigkeiten des Sesshaftwerdens und der Aufnahme von Migranten, sondern vor allem um die Beweggründe der Migration. Wenn es im Osten Europas Frieden, Sicherheit und Wohlstand gäbe, würde die Migration nicht so groß sein. Der Westen hat nicht geholfen die Voraussetzungen zum Bleiben zu schaffen. Was das Zusammenleben von Zigeuner und Nicht-Zigeuner in Ungarn betrifft, so wage ich zu behaupten, dass das Zusammenleben hier nicht schlechter ist als in jedem anderen osteuropäischen Land. Ganz im Gegenteil... Ein dauerhaftes, allgemein friedliches Zusammenleben ist wohl eine Idealform, die es so nicht gibt. Doch können sehr wohl die Lebensverhältnisse der Zigeuner und dadurch die allgemeine Situation und Stimmung verbessert werden. Welche Rolle spielt dabei die Kirche, die Gemeinden und die einzelnen Gemeindeglieder? Die Kirche hat eine unfassbar große Aufgabe. Vor allem sollte sie die Verkündigung des Evangeliums todernst nehmen. Das ist das einzig Wirksame, denn wir alle – Zigeuner und nicht Zigeuner – haben Christus nötig. Außerdem sollte Kirche nicht das friedliche Zusammenleben erreichen wollen, sondern den Gedanken des „Füreinander-Seins“ in den Gemeinden verbreiten. Wir sind füreinander geschaffen, nicht für uns selbst. Durch diese Erkenntnis können auch Einzelne in der eigenen Lebenssituation sehen, wie er oder sie anderen helfen könnten. Wir wissen ja, dass Jesus den Dienst an nur einem der geringsten Brüder höher Ein Gottesdienst in der lutherischen Kirche in Sárszentlőrinc als alles geschätzt hat. Die Gemeinden sollen insgesamt aufnahmebereiter und verständnis- voller sein, aber auch Normen aufstellen und erwarten, dass diese mitgetragen werden. Dazu gehört auch, dass die Möglichkeit zum Neuanfang geboten, sowie eine friedliche und verlässliche Gemeinschaft gesichert wird. Dafür muss auch in mir Friede und Vergebung sein.