Gerade warst du mit den Paulusbriefen unterwegs. Wenn du mit Musikerkollegen Bibeltexte musikalisch aufarbeitest, inwiefern denkt ihr grenzenüberwindend?
Wir singen die Bibeltexte in ungarischer Sprache. Viele denken, dass wir uns deshalb nur an Ungarn richten. Doch die Bibeltexte kann man leicht in seiner Muttersprache nachschlagen und dann der Musik folgen. Im letzten Jahr sind wir in Dänemark aufgetreten. Dort haben wir in ungarischer Sprache eine musikalische Aufarbeitung der Bergpredigt dargeboten, die entsprechenden Bibeltexte wurden zwischen den einzelnen Stücken auf dänisch vorgetragen. Mit diesem Konzept konnten wir viele Freunde gewinnen. Ein ähnliches Erlebnis hatten wir mit Psalminterpretationen in Rom. Die Musik überwindet Grenzen und sprachliche Hürden recht leicht.
Würdest du, der du eigentlich Musiker bist, dich auch als Verkündiger sehen? „Dániel Gryllus, der Prediger“ – passt diese Bezeichnung?
Es passt. Luther sagt: Wenn man etwas im Glauben tut – und er denkt da auch an die einfachsten Verrichtungen – dann ist das ein rechter Gottesdienst. So gesehen ist das auch rechte Verkündigung, was wir tun, auch wenn ich kein Amt bei der Kirche innehabe. Was wir darbieten, hat freilich auch eine sakrale Seite. Wenn ich an die Auftritte mit den Paulusbriefen denke, dann haben die ja Vortragscharakter. Insofern mache ich nichts anderes als zu „agieren“. Und dabei trage ich vieles weiter, worin Paulus ja selbst auch seine Leser und Hörer zur Rechenschaft zieht, worin er sie zurechtweist. Diese apostolischen Mahnungen haben an Aktualität nichts eingebüßt und wollen die Hörer ja auch im Hier und Jetzt erreichen. Wenn das gelingt, geschieht nichts anderes als eine Art Predigt, wenn auch nicht unbedingt in missionierender Absicht.
Wie man weiß, bin ich Leiter der Gruppe Kaláka, mit der wir unter anderem ungarische Gedichte vertonen und sie so weitergeben. Wir haben dafür viele Auszeichnungen erhalten, weil wir damit auch der Bildung und der Vermittlung von Werten nachkommen. Aber ganz ehrlich: Wenn man uns auch als „Bildungshelfer“ ansieht, muss ich einwerfen, dass für uns grundlegend ist, dass wir das machen, was uns selbst Freude bereitet. Wenn jemand dadurch Bildung erfährt, sei es so! Aber wir nötigen das niemandem auf. Genauso ist es mit den Bibeltexten. Ich singe sie, weil sie mir wichtig sind und weil ich sie mag. Wenn dadurch jemand zum Glauben kommt – und es gibt manche –, dann freue ich mich darüber. Aber als Musiker sehe ich meine Aufgabe eher darin, Freude und Erlebnisse weiterzugeben.
Manchmal denke ich, dass ein Musiker so viel mehr ausdrücken kann – mit seiner Stimme, mit den Instrumenten, mit dem Spiel von Rhythmus und Harmonien, als ich das als Pfarrer kann. Ich bewundere, wenn ich euch sehe und erlebe, vieles an den Ausdrucksmöglichkeiten der Musik. Hattest du so einen Gedanken auch schon mal andersherum: Wie gut wäre es, Pfarrer zu sein?
Ehrlich gesagt hatte ich noch nie den Gedanken, dass ich sehr gerne mal den Predigerplatz auf der Kanzel einnehmen würde. Aber ich habe schon oft viel Bereicherndes in Predigten gehört – manche Gedanken, von denen ich fühlte, dass sie auch in mir sind und vielleicht sogar musikalisch umgesetzt werden sollten. Mein Großvater war übrigens ein reformierter Pfarrer. Ich habe sicher etwas in meinen Genen, was mich in diese Richtung zieht. Wenn ich zwischen vertonten Bibeltexten ein paar Worte an die Zuhörer richte, dann kommt auch irgendwie der „Pfarrer in mir“ zum Vorschein – freilich in einer moderneren Form, nicht mit einer klassischen pfarrherrlichen Intonation, was man im Ungarischen als „papos“ bezeichnet.
Im Übrigen: Der Austausch mit Pfarrern ist mir wichtig. Ich habe unter meinen Freunden eine ganze Reihe von Pfarrern, und mich interessiert ihre Meinung. Und nicht selten interessieren sie sich auch dafür, wie ich die Dinge sehe.
Dann erkundige ich mich doch gleich mal nach deiner Meinung: Wenn wir uns über die Zukunft der Kirche den Kopf zerbrechen, denken wir häufig besonders an junge Menschen, an junge Familien, die wir gerne für die Kirche erreichen würden. Genau die sind ja auch die Zielgruppe vieler Kaláka-Platten. Wenn du das heutige Publikum mit dem Publikum von vor ein paar Jahrzehnten vergleichst: Ist es schwerer geworden, sie zu erreichen? Haben sich die Zeiten verändert und die jungen Familien, die Kinder sich mit ihnen?
Die Kinder nicht. Vielleicht am ehesten insofern, als dass sich viele Kinder heute nicht mehr so gut länger auf eine Sache konzentrieren können. Das ist der Fehler der jungen Eltern: Sie bringen inzwischen zu unseren Konzerten mitunter Fahrräder oder etwas zu essen mit. Das war vor vierzig, fünfzig Jahren unvorstellbar. Ich war immer schon der Meinung, dass man den Gottesdienst und die Kultur nicht verpflichtend, sondern attraktiv machen muss. Wenn man etwas attraktiv gestaltet – und da haben wir wirklich Erfahrung –, dann geht man einen Schritt in die richtige Richtung. Wie man die Kirche, den Glauben für Jugendliche attraktiv machen kann, da bin ich etwas überfragt. Ich fühle mich eher als Hilfsmittel, als Werkzeug in eurer Hand. Aber die dauerhafte Arbeit vor Ort macht ihr.
Zur Illustration: Wir spielen öfter mal in Schulen. Da sitzen dann etliche Schüler vor uns, hören uns zu, machen mit. Und die Lehrkräfte kommen nach dem Konzert zu uns und sagen uns, was für fantastische Pädagogen wir seien. Darauf sage ich: „Wir haben’s leicht. Wir kommen und machen eine Stunde Musik. So ist es nicht allzu schwer, Kinder zu erreichen.“ Aber die Arbeit fängt ja danach erst an. Die Lehrer können darauf aufbauen – vielleicht sogar über Wochen hinweg. Sie können die Schüler fragen: „Erinnert ihr euch an diesen Gedanken, an jene Aussage in einem Lied, vielleicht an dieses oder jene Gedicht?“ Das punktuelle Konzerterlebnis in den Alltag hineinzutragen, das machen ja nicht wir. Mehr als solche punktuellen Erlebnisse können wir auch in kirchlicher Hinsicht nicht bieten. Für uns ist bei allem wichtig, dass wir lieben, was wir tun. Darin fühlen wir uns wohl.
Genau das kommt ja auch rüber.
Ja, diese Liebe kommt rüber. Und auch die Liebe zur Sache. Es ist das Glück des Publikums, dass wir überwiegend positive, lebensbejahende Themen behandeln. Denn man könnte ja zu allen möglichen anderen Dingen auch eine Liebe wecken und weitergeben.
Jemand sagte mal: „Wenn Kaláka über den Tod singt, wird sogar der Tod irgendwie erträglicher.“ Ich will sagen, ihr bietet ja nicht nur leichte Kost.
Wenn ich darüber nachdenke: Wir musizieren seit 46 Jahren, haben wir Hunderte von Gedichte vertont, 1.200 oder 1.300 Lieder aufgenommen – ich weiß gar nicht, wie viele Platten wir veröffentlicht haben. Da gibt es kaum ein Thema, das wir nicht aufgearbeitet haben, zumal wir immer in einem thematisch weiten Spektrum gedacht und gearbeitet haben. Es ist ja nicht so, dass wir die Grenzen nach Kinder- und Liebesgedichten zögen und sonst nichts an uns heran ließen. Das Leben im Ganzen hat ja viele Facetten und dafür stehen auch die Gesamtwerke einzelner Dichter. Wenn wir uns dem Werk von Lőrinc Szabó, Dezső Kosztolányi, János Arany oder Attila József annähern, dann ist es unsere selbstgestellte Aufgabe, ihr Denken und Wirken in der gesamten Breite zu entdecken und musikalisch aufzuarbeiten: Dann gibt’s neben dem Thema Leben eben auch den Tod, neben Frühling und Sommer auch Herbst und Winter, neben dem Entstehen auch das Vergehen. Diese Themen beschäftigen jeden. Wir versuchen, diese Stimmungen nachzuempfinden und weiterzugeben.
Du bist in der glücklichen Lage, dass du aktives Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche bist, aber kein Amt innehast. Damit hast du genug Einblick, um die Kirche „von innen“ zu sehen, aber auch genug Abstand, um Kritik frei formulieren zu können. Was wäre ein freundschaftlicher Rat von dir an deine Kirche?
Als wir vor fünfundzwanzig Jahren erstmals die vertonten Paulusbriefe veröffentlicht haben, da haben die Gemeindeglieder die Kassetten von Hand zu Hand gegeben, wir haben in kurzer Zeit ein paar tausend Kassetten verkauft. Die Verkaufszahlen sind nicht das Wichtigste. Aber sie spiegeln in diesem Fall etwas von der Aufbruchstimmung wider, die damals in den Gemeinden herrschte. Der Gemeindeaufbau hatte damals ein größeres Gewicht als heute. Freilich es war die Zeit kurz nach dem Ende des Kommunismus, eine ganz andere Zeit als heute. Ein anderes Beispiel: Als ich Konfirmand war, gab es in unserer Gemeinde zwei Gruppen zu je zwanzig Konfirmanden. Heute werden in derselben Kirche etwa fünf bis sechs junge Menschen pro Jahr konfirmiert. Kurzum: Irgendwas stimmt nicht.
Der Gemeindeaufbau müsste ein Dauerthema sein. Vielleicht hat sich die Situation der Kirche etwas verbessert, und schon beschäftigt sich die Kirche nicht mehr so eingehend mit der Frage, wie – bildlich gesprochen – die Seelen zu einem Strauß gebunden werden können. Heutzutage geht’s eher darum, dass Gebäude renoviert werden, dass diese und jene Aktionen unternommen werden. Ich glaube, dass die Seelsorge und der Bau der Gemeinde mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Aber ich weiß nicht, ob die Möglichkeit dazu besteht. Was ich vorhin in Bezug auf die Kinder gesagt habe, stimmt ja für die Erwachsenen auch: Unsere Aufmerksamkeit wird heutzutage von immer mehr Dingen in Anspruch genommen. Es gibt zahllose Alternativangebote, auf die man seine Zeit und seine Energie verwenden kann – die Kirche muss sich da ja auf dem Markt der Möglichkeiten behaupten. In so einer Situation den Glauben, die Kirche attraktiv zu machen, ist keine so leichte Sache.
Kann die Kirche von innen her, von ihrer Struktur her das so leicht leisten?
Seit langem ist die „Aufteilung“ in Gemeinde, Kirchenvorstand und Pfarrer üblich und scheint bewährt. Ich hege jedoch Bedenken, ob wir strukturell noch mit der Zeit gehen. Denn strukturelle Hürden können ja das Vorankommen bremsen. Wir leben in einer schnellen Zeit – und in manchen Dingen, glaube ich, bräuchten die Pfarrer eine größere Entscheidungskompetenz. Wenn alles durch den Kirchenvorstand muss – wenn sich der Kirchenvorstand als Aufsichts- und Kontrollinstanz versteht und jeder Kirchenvorsteher einzeln überzeugt werden will, dann werden Prozesse schwerfällig. Ich glaube, das jetzige System steht in der Gefahr zu verknöchern. Natürlich ist das keine Behauptung, die Allgemeingültigkeit für sich fordert. Jede Gemeinde ist anders. Und jeder Kirchenvorstand ist anders.
Vielleicht wäre eine professionellere Garde, ein Kompetenzteam zukunftsfähiger. Ich denke da an Fachleute, die den Geist der Kirche leben und darüber hinaus auch noch wissen, was sie tun. Wenn eine Gemeinde einen Fachmann für Kommunikation hat und ihm auch Kompetenzen in diesem Arbeitsbereich gibt, dann sind wir weiter, als wenn – ohne Zweifel – herzlich liebe Menschen ohne jede Fachahnung als Mitglieder des Kirchenvorstand beschließen müssen, wo ein Heizungsrohr verlaufen soll.
Mein Vater war ja Kurator der Gemeinde am Deák-Platz. Er hat sich über die genannten Dinge übrigens nie beschwert, aber nicht zuletzt durch ihn weiß ich schon, dass es in einer Kirchengemeinde immer viel Klärungs- und Abstimmungsbedarf gibt. Man muss miteinander reden. Auch Paulus war das nicht fremd. Er hat ja auch in den Gemeinden vermittelt, geschlichtet und sie aufgerufen, das eigene Miteinander zu ordnen.