Wittenberg – das „lutherische Mekka“?

Wittenberg – das „lutherische Mekka“?

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Quelle: Evangélikus Élet / Deutsche Anlage / Redakteurin: Pfarrerin Eszter Heinrichs, Photo: Fotostudio Cornelia Kirsch, Wittenberg
Wittenberg – diese Stadt ist für uns Lutheraner ein bisschen „unser Mekka“, viele von uns waren schon einmal dort oder würden gern dahin fahren. Wir benutzen in unserer ungarischen-evangelischen Kirche mit Vorliebe jene Begrüssung, die auf dem Turm der Schlosskirche steht: Ein feste Burg ist unser Gott.

Unsere Religionskinder kennen manchmal Luthers Familiengeschichten so, als ob sie Volksmärchen wären… Wir tragen gern die Lutherrose auf unserer Kleidung, und es gibt Gemeinden, wo die Kinder zur Taufe und Konfirmation Torten mit Lutherrosen bekommen. Beim Begräbnis eines verstorbenen Presbyters wird oft ein Kranz mit diesem Symbol auf das Grab gelegt. Wir können ruhig sagen, dass in Ungarn ein gewisser Luther- und Wittenbergkult existiert. Das ist an sich nicht schlecht, denn man braucht immer Wurzeln. Nur wird das in Deutschland eher nicht verstanden. Dort habe ich noch niemanden gehört, der als Begrüssung „Ein feste Burg…“ verwendet hätte. Auch habe ich noch selten Lutherrosen auf dem Kragen gesehen oder außerhalb Ungarns eine Luther-Torte gegessen.

Wittenberg ist anders. Die „Lutherstadt“ lebt von Traditionen und von Touristen. Von solchen Touristen, denen Luther und seine Theologie viel bedeutet, und von solchen, denen viel an den oben genannten Luther-Traditionen gelegen ist. Aber ist Wittenberg wirklich so lutherisch? Bedeuten hier die Traditionen tatsächlich so viel? Ist die Stadt so religiös?

Darüber habe ich mit Familie Schubert in Sopron geredet. Auf ungarisch, denn Edit Schubert ist eine geborene „Miskolcerin“, die jahrzehntelang in Wittenberg Musiklehrerin war. Ihr Mann, Dieter, stammt aus Sachsen und arbeitete bis vor kurzem als niedergelassener Gynäkologe – mitten in der Altstadt von Wittenberg. Er spricht auch wunderbar ungarisch. Und sie haben einen Sohn, Géza, der zweisprachig in Wittenberg aufgewachsen ist und zur Zeit in Wien arbeitet bzw. promoviert. Mit ihnen habe ich über unser „Mekka“, die Lutherstadt Wittenberg, gesprochen.

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Wie ist das Leben in Wittenberg, wenn man Einwohner dieser historischen Stadt ist? Wachsen auch schon die Kindergartenkinder in den „Luther-Kult“ hinein?

Edit: Wir wohnen bereits seit über 30 Jahren in Wittenberg. Géza ist hier in den evangelischen Kindergarten gegangen, wurde hier auch eingeschult und hat sein Abitur am Melanchthon-Gymnasium abgelegt. Wir als Eltern sind unseren Berufen nachgegangen und haben wie viele andere v.a. vor der Wende versucht, trotz der politischen Gegebenheiten ein ganz normales Familienleben zu führen. Natürlich sind wir von Anfang an in das kirchliche Leben der Stadt eingebunden gewesen. So hat gerade zu DDR-Zeiten die Kirchenmusik eine große Rolle im Kulturleben der Stadt, aber auch für uns selbst gespielt. Wir haben bei zahlreichen Aufführungen der Stadtkirchenkantorei mitgewirkt, Géza hat zudem im Posaunenchor Alttrompete und Tuba gespielt.

Géza: Inwieweit man vom Luther-Kult bereits in Kindergärten sprechen kann, weiß ich nicht. Natürlich war einem bereits als Kind bewusst, dass man in der Stadt Luthers und seiner Wegbegleiter wohnt – mit all den Wirkungsstätten, wie z.B. der Stadt- und Schlosskirche, der Lutherhalle, der Luthereiche (dem Ort der Verbrennung der päpstlichen Bannbulle) oder dem Bugenhagensaal, in dem wir regelmäßig unsere Proben der Kantorei und des Posaunenchors hatten. Wie historisch bedeutsam diese Stadt ist, habe ich an den vielen Touristen gesehen, die nicht nur zum Reformationstag Wittenberg besucht haben. Da es zu DDR-Zeiten kaum Hotels in der Stadt gab, hatten wir regelmäßig Gäste aus Westdeutschland, ja sogar aus den USA, die uns über die Stadtkirchengemeinde zugeteilt wurden. Das war schon was Besonderes. Ich erinnere mich noch (obwohl ich noch sehr klein war) an einen Fotografen der National Geographic, der im Lutherjahr 1983 bei uns untergebracht wurde – zusammen mit einer „offiziellen“ Reisebegleiterin, einer Stasi-Mitarbeiterin. Da wurde mir bewusst, welche Bedeutung Wittenberg für viele Menschen hat.

Dieter: Nach der Wende im Jahre 1989 wurde aber doch massiv in den Tourismus investiert. So gibt es kaum noch verfallene Häuser in der Innenstadt, viele Straßenzüge wurden saniert, eine schöne Fußgängerzone geschaffen. Zeitgleich begann auch die Vermarktung des Produkts „Luther“, was mitunter skurrile Züge annimmt, wie z.B. Lutherbrot, Lutherbecher (einem Likör), Luthersocken und sonstige Souvenirs. Es gibt in den Restaurants Luther-Menüs, auch kann man mit Herrn Luther tafeln oder sich von ihm die Stadt zeigen lassen. Auf kulturellem Gebiet geschah aber auch Einiges, wie z.B. die Wiedereröffnung der Leucorea, des alten Universitätsgebäudes. Auch gibt es regelmäßig in der Altstadt diverse Märkte und Festivals, u.a. eines der größten Stadtfeste in Deutschland, „Luthers Hochzeit“.

Welche Erlebnisse verbinden Sie mit „Luthers Hochzeit“?

Géza: Dieses Fest gibt es seit 1993 und hat sich zu einem wirklichen Großereignis entwickelt, was immer am zweiten Juniwochenende in der gesamten Altstadt stattfindet. Mittlerweile kommen an einem Wochenende über 100.000 Leute zu Besuch. Ich mag das mittelalterliche Treiben, die vielen interessanten Stände und Konzerte. Besonders schön ist es für mich, nach langer Zeit wieder alten Freunden und Bekannten zu begegnen, da zu diesem Ereignis viele in die alte Heimat zurückkehren. Da ich nun seit fast 10 Jahren in Wien wohne, ist dieses Fest ein guter Anlass, die alte Heimat in der warmen Jahreszeit zu besuchen. Das größte Highlight ist sicherlich der große mittelalterliche Umzug, bei dem „Luther“ und sein Hochzeitsgefolge, die Handwerkerzünfte, Bauern etc. durch die Altstadt ziehen.

Welche Rolle hat Luther vor der Wende, zu DDR-Zeiten, in Wittenberg gespielt?

Edit: Leider hat gerade in der Geburtsstätte der Reformation, Wittenberg, der Kommunismus seine Spuren hinterlassen. Man kann daher auch von einer weitgehend atheistischen Stadt sprechen. Das lag v.a. daran, dass in der Vorkriegszeit, aber gerade zu DDR-Zeiten das Chemiekombinat in Piesteritz, aber auch andere Industriezweige in der Stadt ausgebaut worden sind. Dies hatte zu einer starken „Proletarisierung“ der Bevölkerung geführt, so dass es nur noch wenige Gläubige in der Stadt gab und gibt.

Géza: In meiner Klasse war ich der Einzige, der konfirmiert worden ist. Zudem gab es noch zwei katholische Mitschüler, was aber eher eine Ausnahme war. Glücklicherweise musste ich nicht mehr in die FDJ eintreten und konnte in der Nachwendezeit ohne Probleme meine Konfirmation feiern.

Dieter: Ein einschneidendes Erlebnis war ohne Frage das Lutherjahr 1983, dem sich auch die DDR nicht entziehen konnte. Man kann sagen, dass Luther der erste „Kirchenmann“ war, den man versuchte, in das „kulturelle Erbe“ der DDR zu integrieren. In dieser Zeit wurde die Stadt wie ein Potemkinsches Dorf ausstaffiert – es wurden die Fassaden schön angemalt, während die Hinterhöfe fast von alleine zusammenfielen. Unvergessen die weißgetünchte Fassade der Stadtkirche, die, nachdem vor der Stadtkirche mehrere Tonnen Braunkohle für die Kirche bzw. die Nachbarhäuser abgeladen wurden, binnen kurzer Zeit wieder genauso grau aussah wie vorher. Seit der Wende hat man aber – Gott sei Dank – viel schöne alte Bausubstanz in letzter Minute noch retten können. Gerade jetzt wird im Hinblick auf das große Reformationsjubiläum im Jahre 2017 viel investiert und saniert. Wittenberg wird immer mehr zum Schmuckkästchen. Schade nur, dass wochentags, wenn es keine Feste gibt, in den Abendstunden im wahrsten Sinne des Wortes die Bürgersteige hochgeklappt werden. Es wird dann ziemlich ruhig in der 48.000-Einwohnerstadt.

Gibt es viele ungarische Touristen oder Landsleute in Wittenberg?

Edit: Es gibt sicherlich einige Touristen aus Ungarn, wobei man eher andere Sprachen in Wittenberg hört, wie z.B. amerikanisches Englisch oder Niederländisch. Im Predigerseminar trifft man aber gelegentlich junge ungarische Pfarrer in der Ausbildung. Da es in der DDR zahlreiche ungarische Gastarbeiter gab, blieben einige Ungarn durch Heirat in dem Land. So hatte Géza in seinem Jahrgang an der Schule zwei Halbungarn, die aber leider kaum Ungarisch konnten. Weil nur wenige Ungarn in Wittenberg leben, fahre ich mit meinem Mann einmal monatlich nach Berlin, wo sich die ungarische protestantische Gemeinde im Grunewald zum Gottesdienst trifft. Man fährt zwar eine Stunde mit dem Auto, aber es lohnt sich, da man dort mit zahlreichen Exil-Ungarn aus dem Mutterland, aber auch z.B. aus Siebenbürgen oder Transkarpatien zusammenkommt. Auch haben wir die Gemeindemitglieder letztens zu uns nach Wittenberg eingeladen, um ihnen die Geburtsstätte der Reformation zu zeigen.

Sie sprechen sehr schön Ungarisch. Wo haben Sie das gelernt?

Géza: Ich bin in Deutschland zweisprachig aufgewachsen. Mein Problem war nur, dass ich von der deutschen Umgebung auch die Sprachlogik übernommen habe, was in der ungarischen Sprache durchaus ein Problem ist. Irgendwann haben meine Eltern es aufgegeben, meine typisch deutschen Fehler auszubessern. Daher habe ich mich während meines Studiums entschlossen, richtig Ungarisch zu lernen, weshalb ich für ein Jahr nach Pécs gegangen bin, was mir sehr viel gebracht hat. Nach meinem Studium war ich fast 7 Monate in Klausenburg/Kolozsvár, wo man auch sehr schön die Sprachkenntnisse perfektionieren kann. Glücklicherweise habe ich in den letzten Jahren beruflich, aber auch privat sehr viel mit Ungarn zu tun gehabt.

Sie haben gerade erwähnt, dass Sie unter anderem in Siebenbürgen studiert haben. Was verbinden Sie als Wittenberger mit dieser Gegend?

Géza: Interessanterweise recht viel, obwohl wir dort keinerlei verwandschaftlichen Bezüge haben. Man kann in Siebenbürgen oder dem Banat aber meinen beiden Identitäten, der deutschen und der ungarischen, heute noch begegnen. So besuche ich dort gerne meine zahlreichen ungarischen, aber auch sächsischen Bekannten. Obwohl mittlerweile über 95% der Siebenbürger Sachsen v.a. nach Deutschland ausgewandert sind, sieht man immer noch die wunderschönen deutschen Dörfer und Wehrkirchen, in denen man sich um mehrere Jahrhunderte zurückversetzt fühlt. Es hat mich jedesmal fasziniert, in den alten Kirchen den lutherischen Losungen, Lutherbildern und – statuen zu begegnen und in uralten evangelischen Gesangsbüchern zu blättern – und dies am Fuße der Südkarpaten. Man kann auch scherzhaft sagen, dass ich in den letzten Jahren auf den Spuren von Honterus gewandelt bin. Er war immerhin derjenige, der in Wittenberg zu Luthers Zeiten studiert und den protestantischen Glauben in Siebenbürgen verbreitet hat. So war es eine glückliche Fügung, dass ich mich in den letzten 12-13 Jahren intensiver mit diesem Landstrich beschäftigt habe. Auch wenn ich selbst kein „Reformator” bin: Ich fühle mich in Wittenberg und in Siebenbürgen heimisch und kann verstehen, warum sich Honterus hier wie dort wohlgefühlt hat. Es verbindet mich also sehr viel mit Wittenberg, dem heutigen Ungarn und Siebenbürgen- nicht zuletzt wegen der beiden Sprachen und Kulturen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Eszter Heinrichs

Zweisprachige Gottesdienste am Reformationstag

31. Oktober

Ágfalva 17 Uhr, Budavár 18 Uhr, Sopron 18 Uhr,

Sopronbánfalva 15 Uhr

Címkék: Wittenberg -

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